Daidalos. Torso.
Eine Auseinandersetzung mit dem Mythos des Erfinders, Baumeisters und Künstlers Daidalos
von Gerd Knappe
Ein Theatertext über die Frage, wie Geschichten erzählt und zugleich umgeformt werden, bis zur Auflösung aller Rollen.
Faden einer Geschichte Linie.
Unter einer Maske einig hebt ein Chor an, die Geschichte des Daidalos zu erzählen, kommt durch sie auseinander, bis sich die Variante mit dem längeren Atem durchsetzt. Die Frauen: Naukrate, Frau/Ariadne, Andere Frau/Pasiphae, die den Erfinder umgeben, schweigen bis Daidalos spricht, Minos sich einmischt, sie ihr Recht einfordern, ihre Erlebnisse aus der Geschichte einzubringen. Die Gestalten der Mythologie werden von den Lebenden kritisiert und unterstützt, bis die Toten mit den Lebenden uneins werden und ausbrechen. König Minos will zu Wort kommen: Die Geschichte seiner Jugend bis zu ihrer Gegenwart. Das Recht auf seiner Seite bildet sich kräftig ein Gegenchor. Geschichte und Vorgang sehen sich missbraucht. Der Schauspieler erhebt verzweifelt Einspruch. Was soll ein Mensch dem Menschen, wenn der Lauf der Dinge durch Gewalt bestimmt wird? Wozu braucht es den Schauspieler, das Theater? Bedient es sich nicht der Gewalt, die es kritisiert? Zerstritten greifen Vorgang und Geschichte ein. Geschichte löst sich von Vorgang und schreibt sich selbst weiter.
"
Die Geschichte des Daidalos
Ist nicht nur die Geschichte des Ikarus
Die wie vom Katheder herunter
Den Jungen erzählt wird
Sie ist auch die Geschichte eines Mordes
Denn Ikarus fiel aus allen Himmeln
Da Daidalos den Talos vom Felsen stürzte
Daidalos dem Athener Richterspruch
Aber dem Sohn nicht entkam
Wurde Ikarus vorenthalten worauf Talos kam
Sodass der Lehrer den Schüler
Nicht nur um sein Leben brachte
Sondern ihn auch wie eine Schlange zu verscharren suchte
Um kein Wort mehr von ihm
Um kein Wort mehr über ihn zu lassen
Sodass er dem Sohn
Nur den Ratschlag geben konnte
Die Gebote des Vaters zu befolgen
Sodass der Ikarus die Gelegenheit nutzte
Den starken Wind unter seinen künstlichen Flügeln
Sich vom Alten zu befreien
Und hoch hinaus an das Licht flog
Um gleich herabzustürzen
Und auch nicht mehr gesehen wurde
Denn der Vater achtete auf seinen Weg
Denn der Vater ließ den Sohn
Auf sich bedacht nur einen Teil
Und nicht das ganze Leben
Das der Junge seinem Instinkt folgend
Aber im falschen Moment sich nehmen wollte
Und ihn auf seinem Flug hinab
Nur noch ein Nichts zur Verfügung stand
Was ist alles in einer Geschichte
Wenn die Geschichte eine Geschichte ist
Wie ist Fragen in der Welt
Die für alles Antworten hat
Phillippos Sohn des Aristophanes
Wie sein Vater einer der Komödien schrieb
Soll ein Stück über den Daidalos verfasst haben
Es ist verloren gegangen und wir wissen nur
Das es vorhanden gewesen sein soll
Aus welchen Gründen müssen wir
Auf dieses Stück verzichten
Ist es verbrannt
In einer Schublade einem Schrank
Oder in einer Bibliothek umgekommen
Hat es die Kriege nicht überdauert
Wir wissen es nicht
So entdecken wir die Geschichte neu
Gehen zurück um etwas für uns herauszuholen
Aber die von Phillippos Aufgeschriebene ist verloren
Und ihre aufmerksame Ausführung wie wir vermuten
Bestimmt erzählen wir die Geschichte des Daidalos anders
Ob sie anders verläuft wissen wir nicht
Wir wissen nur was sich in Jahrhunderten nicht verändert hat
Und so kann es geschehen dass wir
Immer die gleichen Geschichten erzählen
Und uns nur auf eine andere Art streiten
Theaterpädagogische Perspektive:
Dieses Stück von Gerd Knappe ist eine hochkomplexe Meta-Theater-Auseinandersetzung mit dem Mythos, Geschichtenerzählen und der Macht der Interpretation. Es dekonstruiert den Daidalos-Mythos und hinterfragt die Rolle von Autor, Darsteller und Publikum. Dies bietet eine intellektuell anspruchsvolle und formal experimentelle Grundlage für theaterpädagogische Arbeit.
Themen
"Daidalos. Torso." behandelt eine Vielzahl tiefgründiger Themen:
- Die Konstruktion von Geschichten und Mythen: Wie werden Geschichten erzählt, umgeformt und wie setzen sich bestimmte Narrative durch? Das Stück hinterfragt die Objektivität von Überlieferung.
- Macht und Interpretation: Wer hat das Recht, eine Geschichte zu erzählen? Wer bestimmt die "Wahrheit" einer Erzählung? Die Figuren (Frauen, Minos, Schauspieler) kämpfen um die Deutungshoheit über den Daidalos-Mythos.
- Gewalt und Theater: Die verzweifelte Frage "Was soll ein Mensch dem Menschen, wenn der Lauf der Dinge durch Gewalt bestimmt wird? Wozu braucht es den Schauspieler, das Theater? Bedient es sich nicht der Gewalt, die es kritisiert?" ist eine zentrale metatheaterale Reflexion über die Verantwortung und Wirksamkeit des Theaters.
- Rollen und Identität: Die Auflösung der Rollen bis hin zur Entzweiung von "Geschichte" und "Vorgang" selbst thematisiert die Fluidität von Identität und die Grenzen der Darstellung.
- Feministische Perspektiven auf Mythen: Die Frauenfiguren (Naukrate, Ariadne, Pasiphae) fordern explizit ihr Recht ein, ihre Erlebnisse in die Geschichte einzubringen, was eine Neubewertung bekannter Mythen aus weiblicher Sicht ermöglicht.
- Autorität und Widerspruch: Minos' Versuch, "zu Wort zu kommen" und seine Jugend zu erzählen, trifft auf einen "kräftigen Gegenchor", was den Kampf um die Erzählhoheit weiter zuspitzt.
Spielanreize
Das Stück bietet vielfältige und herausfordernde Spielanreize, die über traditionelles Sprechtheater hinausgehen:
- Chorisches Spiel: Der eröffnende Chor, der auseinanderfällt und sich in Gegenchöre spaltet, bietet enormes Potenzial für körperliche, stimmliche und choreografische Arbeit. Wie visualisiert man eine auseinanderbrechende Einheit?
- Maskenspiel: "Unter einer Maske einig hebt ein Chor an..." Masken können die archaische Natur des Mythos betonen und gleichzeitig die Auflösung der Rollen herausfordern, wenn die Spieler die Masken ablegen oder wechseln.
- Meta-Ebene und Brechung: Das Stück kommentiert sich selbst, die Schauspieler treten aus ihren Rollen. Dies ermöglicht ein Spiel mit der Illusion der Bühne und der Reflexion über den Akt des Theaterspielens.
- Sprachliche Auseinandersetzung: Die Sprache des Stücks, die zwischen erzählerischen Passagen, direkter Rede, philosophischen Fragen und Chorstimmen wechselt, erfordert eine präzise und differenzierte Sprachgestaltung.
- Physische Darstellung von Konflikten: Das "Auseinanderbrechen", das "Einforderung des Rechts", das "Sich-Einmischen" und das "Ausbrechen" können sehr physisch und ausdrucksstark umgesetzt werden.
- Improvisation und Rollenwechsel: Da Rollen sich auflösen, können improvisatorische Elemente und fließende Rollenwechsel genutzt werden, um die Instabilität der Erzählung zu unterstreichen.
Zielgruppenansprache
Dieses Stück ist ideal für:
- Oberstufe (ab 17 Jahren) und junge Erwachsene (Abiturkurse, Studierende): Die komplexen Meta-Ebenen, philosophischen Fragestellungen und die Dekonstruktion von Mythen erfordern ein hohes Maß an intellektueller Reife, Theatervorwissen und die Bereitschaft, sich auf experimentelle Formen einzulassen.
- Theater-AGs oder Kurse mit Schwerpunkt auf Stückentwicklung, Regie, Dramaturgie oder philosophischem Theater: Es ist hervorragend geeignet, um über die Natur des Theaters und die Macht des Geschichtenerzählens zu reflektieren.
- Ensembles, die Lust auf herausforderndes, unkonventionelles Theater haben: Für Gruppen, die sich nicht scheuen, über die vierte Wand hinauszugehen und die Rollen von Spielern und Figuren zu hinterfragen.
Umsetzungsideen
- Minimalistisches, flexibles Bühnenbild: Ein fast leerer Raum, der durch Licht, wenige Requisiten oder symbolische Elemente (z.B. ein roter Faden, der die Linie der Geschichte symbolisiert; Bauelemente, die auf Daidalos verweisen) ständig neu konfiguriert wird, um die sich auflösenden Strukturen widerzuspiegeln.
- Licht als Strukturgeber: Der gezielte Einsatz von Licht, um verschiedene Erzählebenen, Konflikte oder die Auflösung von Formen zu markieren. Schwarzlicht oder spezielle Projektionen könnten genutzt werden.
- Sounddesign und Musik: Abstrakte Klangcollagen, Fragmentierung von Geräuschen, vielleicht auch dissonante Musik, die das Auseinanderbrechen des Chores und die Unstimmigkeit der Erzählung unterstreicht.
- Multimediale Elemente: Projektionen von Textfragmenten, mythischen Bildern oder Videosequenzen, die die verschiedenen Interpretationen der Geschichte widerspiegeln oder kommentieren.
- Interaktion mit dem Publikum: Das Stück könnte bewusst die vierte Wand durchbrechen, indem der Schauspieler das Publikum anspricht oder um Meinungen bittet, um die Frage nach der Gewalt des Theaters zu diskutieren.
- Workshop-Charakter in der Probenarbeit: Viel Zeit für Diskussionen über den Mythos, für philosophische Debatten über Wahrheit und Macht, und für performative Experimente zur Darstellung von Fragmentierung und Auflösung.
Rollenarbeit
Die Arbeit an den Rollen ist hier besonders komplex und erfordert:
- Umgang mit multiplen Identitäten: Die Spieler:innen müssen in der Lage sein, nahtlos zwischen der Rolle der mythologischen Figur, der Rolle des Erzählers im Chor, und der Rolle des "Schauspielers" (der verzweifelt Einspruch erhebt) zu wechseln.
- Körperliche und stimmliche Metamorphose: Wie ändert sich die Körperhaltung oder die Stimme, wenn eine Figur nicht mehr "ganz" ist oder sich auflöst? Wie drückt man die Einheit und das Auseinanderbrechen des Chores physisch aus?
- Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Darsteller: Die Spieler:innen müssen über ihre eigene Funktion im Theater und die Verantwortung, die sie beim Erzählen von Geschichten tragen, reflektieren.
- Präzision in der Sprache und im Timing: Die philosophischen Fragen und die argumentativen Auseinandersetzungen erfordern eine sehr klare und präzise Artikulation.
- Ensemblearbeit: Insbesondere der Chor und die verschiedenen Gegenchöre erfordern ein extrem hohes Maß an Absprache, Koordination und dem Vermögen, als Einheit zu agieren und auseinanderzufallen.
- Mut zur Abstraktion und zum Nicht-Verstehen-Müssen: Die Spieler:innen müssen sich darauf einlassen, dass nicht alles "psychologisch" erklärt wird, sondern dass das Stück auf einer symbolischen und meta-Ebene funktioniert.
"Daidalos. Torso." ist ein Stück, das die Konventionen des Theaters herausfordert und ein Ensemble dazu einlädt, sich intensiv mit den Grundfragen des Geschichtenerzählens und der Macht der Kunst auseinanderzusetzen.